R O T C H I N A
chinesisches Sprichwort
"Jede große Reise beginnt mit dem ersten Schritt."
Wüßte Katerchen Socke was eine Fata Morgana ist, dann wäre ihm klar, daß eine solche vor ihm sitzt. Wo kommt sie her, wo geht sie hin? Was macht sie an Sockes Gartenzaun? Diese blauen Augen, diese anmutige Kopfhaltung, Socke ist verwirrt, fasziniert und sein Herzchen pumpert lauter, als das Motorrad scheppert, mit dem Hase gerade nach Hause kommt. Leider ist das Motorgeräusch schrecklich für die kleine Siamkatzen-Dame, sie läuft in Panik weg und bleibt für immer verschwunden.
Socke ist das erste Mal verliebt in einen Artgenossen. Da er das nicht weiß, fühlt er sich einfach mies, alleine, verlassen, ungeliebt und verbringt einen melancholischen Nachmittag mit Grübeln im Garten.
Als Dosi sieht, in welch schlimmer Verfassung ihr Kleiner ist, packt sie ihn kurzerhand ins Auto und fährt mit ihm zu Wurzerl. Da gibt es ein Zimmer mit ganz vielen klugen Büchern und mit vielen weisen Ratgebern. Dosi meint, vielleicht sollte man das Regal mit Soziologie durchstudieren, aber Wurzerl schickt Socke zum asiatischen Regal, wo ein chinesischer Weiser aus dem Land der Mitte schon auf das Katerchen wartet. Aber als ihm Socke von dem blauäugigen traumhaften Schlitzaugenkätzchen erzählt, schüttelt der Weise den Kopf und sagt: "Socke, ich fürchte, Du mußt nach China reisen in den Tempel der "Azurblauen Wolke", dort wird Dir der Buddha helfen, er ist auf alles azurblaue spezialisiert."
Socke ist noch nicht richtig zuhause angekommen, schon sucht er sich eine passende Reisegelegenheit. Das klappt nicht auf Anhieb, weil er ja schwer verliebt ist, deshalb steigt er erst einmal versehentlich in den Picknick-Korb von Dosi.
Dann entdeckt er seinen Reise-Rucksack, schwupps rein, und schon ist Socke auf dem Weg in einen anderen Kontinent.
Trampen dauert Socke zu lange, Asien ist weit weg von Deutschland, und obwohl man es auch auf dem Landweg erreichen könnte, nimmt Socke lieber die nächste Dschunke. Er bedauert das zwar schnell, als die Matrosen von den Piraten im chinesischen Meer erzählen, aber da Socke ja dauernd von den blauen Augen träumt, ist die Reise schneller vorbei als Socke denkt und er landet in Hongkong.
Da Hongkong eine pulsierende Stadt ist, in der niemand Zeit für die Nöte eines kleinen Katers hat, fährt er kurzerhand mit der Dampflok nach Peking weiter. Ein kleiner chinesischer Kuli hat ihm erzählt, daß die weise Schildkröte in der "Verbotenen Stadt" alles wisse, was auf der Welt wichtig sei, daß an diesem Ort die Zeit stehengeblieben und alles im Stillstand wäre.
Als das Katerchen die Schildkröte in der "Verbotenen Stadt" gefunden hat, steht es ganz eingeschüchtert vor ihr. Aber der kleine Chinese hatte recht, hier hört man ihm zu, in dieser riesigen chinesischen Kaiserstadt, inmitten von Peking regiert nur mehr die Vergangenheit. Aber auch die Schildkröte wiegt nur den klugen Kopf und erklärt Socke, daß Siamkatzen ja eher in Thailand zu suchen wären und für Liebesprobleme wäre vielleicht auch der Tempel der "Azurblauen Wolken" nicht ganz die richtige Anlaufstelle. Die Schildkröte empfiehlt Socke, erst einmal den Himmelstempel in Peking zu besuchen, weil er ja schon in der Nähe sei.
Die "Verbotene Stadt" in Peking ist eigentlich das Schloß der chinesischen Kaiser gewesen, aber es ist nicht wie in Europa ein Palast, sondern eine ganze Stadt, aus kostbarsten Materialien gebaut: Marmor, Sandelholz, Gold, Edelsteine, Malereien, Kalligraphie, goldfarbene Dachziegel (die nur der Kaiser verwenden durfte) Riesenplätze, romantische Winkel und verschnörkelte Architektur kennzeichnen diese Stadt.
Müde schleicht Socke um die Ecke der Halle, in der sich der Thron der früheren Feudalherren befindet. Er hat sich hoffnungslos in dem Gewirr verlaufen.
Er ist richtig froh, als er in einer kleinen verwinkelten Ecke den Garten einer kaiserlichen Konkubine findet und ein bißchen verschnaufen kann. Er belauscht noch ein paar Besucher, die erzählen, daß nur kaiserliche Beamte und die Kaiserfamilie Zutritt zu dieser Riesenanlage hatten. Arbeiter und Angestellte mußten die Palast-Anlage nachts verlassen, daher kommt der Name "Verbotene Stadt". Socke ist froh, als er endlich den Ausgang findet.
Als er im weitläufigen Peking endlich den Himmelstempel findet, erfährt er zwar, daß an diesem Ort der Kaiser einmal jährlich das Opfergebet sprach, damit die Ernte der Bauern gut ausfällt. Und er lernt, daß die Anlage Himmel und Erde symbolisiert und daß die Kiefern und Zypressen dort uralt sind, aber über Blauauge erfährt er nichts.
Da ihm bei dieser Gelegenheit wieder der Tempel der "Azurblauen Wolke" einfällt macht er sich auf den Weg. Der Bau liegt außerhalb Pekings auf einem kleinen Berg. Gegen Abend erreicht er den Tempel. Es befinden sich so viele verschiedene goldene Buddhas in diesem Bau, daß Socke verwirrt davonläuft.
Draußen erzählt ein Mönch von Sian und der dortigen "Wildgans-Pagode". Socke ist ganz aufgeregt, er hat "Siam" verstanden und reist sofort in diese Stadt. Als er vor der großen Pagode steht, weiß er ganz plötzlich, hier ist er richtig. Socke kann es nicht erklären, aber er geht ganz ruhig in die Pagode, die sehr schlicht gehalten ist. In einer fast versteckten Ecke findet er endlich den richtigen Ansprechpartner.
Ein einziger goldener Buddha sitzt hier meditierend zwischen Unmengen von Räucherstäbchen. Er lächelt Socke an und sagt: "ich weiß, was Du suchst, kleines Katerchen". Da staunt Socke sehr und er hört sich selber sagen: "Aber ich weiß es nicht mehr". Der Buddha erklärt ihm daraufhin, daß das normal sei, wenn man eine solche Reise hinter sich gebracht hätte. Socke zweifelt: "Wozu war es dann gut". Da sagt Buddha: "Socke, der Weg ist das Ziel". Und er fügt hinzu: " Du hast soviel auf Deiner Reise gesehen, davon wirst Du ein Leben lang zehren, diese Erinnerungen kann Dir keiner mehr nehmen."
Socke ist schrecklich kaputt, seine weißen Söckchen sind ganz schmutzig, seine Pfoten tun weh. Da kommen an der Wildgans-Pagode Bauern vorbei, auf dem Weg zum Markt. Der Buddha sagt, sie sollen den kleinen Kater zum Bahnhof bringen und in den Zug nach Hongkong setzen.
Während die Karren der Bauern über die Straßen von Sian rumpeln, denkt Socke noch einmal an sein langes Gespräch mit dem Buddha. Was hatte er zuletzt noch gesagt? Seine Gedanken würden Socke auf dem Nachhauseweg hinterherfliegen und ihm ein Überraschungsgeschenk bringen?!
Mit einem Sampan, das ist ein kleines Schiff, wird Socke wieder auf die Dschunke zurückgebracht. Als ihn die Matrosen jubelnd begrüßen und fragen, ob er die Siam-Katze gefunden habe, nickt Socke nur ganz erledigt von der langen Reise und meint: "Ja, ja ich habe Sian gefunden", spricht's und schläft auch schon ein.
Zuhause angekommen ist Socke etwas einsilbig. Das Katerchen ist dabei ein Kater zu werden, auf so einer Reise reift man doch sehr! Dosi wundert sich nur, daß er jetzt jeden Tag auf dem kleinen Baum im Garten sitzt und angestrengt nach Osten schaut. Sie kann ja nicht wissen, daß er Tag für Tag auf die Gedanken des goldenen Buddhas wartet, die ihm ja ein Geschenk mitbringen sollen. Hätte er jetzt den Weisen in Wurzerls Bibliothek besucht und gefragt, was es ist, er wüßte es schon. So muß er, genau wie Ihr, bis zum nächsten Mal warten.